undefinedIn meinem beruflichen wie privaten Umfeld bemerke ich immer öfters eine extrem steigende Komplexität. Alles wird schwieriger, komplexer, schwerer zu durchschauen. Das ist nicht immer dem Thema direkt geschuldet, sondern auch den begleitenden Umständen und gesellschaftlichen Tendenzen. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es sich alleine um meine persönliche Wahrnehmung handelt. Möglicherweise auch eine gewisse Müdigkeit gegenüber Neuem und Veränderung. Werde ich etwa alt?

Es kann aber auch sein, dass es ganz real ist. Und in diesem Fall muß man sich über die Folgen und Konsequenzen einer solchen Veränderung Gedanken machen.

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Beispiele

Anbei ein paar Beispiele aus meinem persönlichen Umfeld, in denen die Komplexität in den letzten 20 Jahren extrem gestiegen ist:

IT-Security

Haupttreiber der steigenden Komplexität in der IT-Security sind die massiv steigende Kriminalität und die immer stärkere Vernetzung. Es gab Zeiten da reichte es einen "Virenscanner" zu haben, und man war größtenteils sicher. Heute sind Angriffe professionell und industrialisiert. Millionen E-Mails mit Trojanern und Ransomware schwirren täglich durch das Netz. Treffer sind unvermeidlich. Die Antivirus-Branche hat den Kampf längst verloren. Man verdient nur zu gut daran um das zuzugeben...

Die Protokolle auf denen unser heutiges Internet basiert sind ursprünglich TCP/IP, SMTP, HTTP und andere. Diese wurden damals ohne einen Gedanken an Sicherheit entwickelt. Alle im Netz waren Nerds, Wissenschaftler und kaum kriminell. Mit steigender Vernetzung und dem Anstieg der Kriminalität (und auch der staatlichen Überwachung) wurde es nötig diese Protokolle zu verbessern. Man hat sich dazu nicht neue erdacht sondern die alten immer wieder "verbessert". Heute ist das Webseiten-Protokoll meist HTTPS (basierend auf dem alten HTTP) mit vielen Sicherheitsfeatures und immer neuen Algorithmen (SSL, TLS, RSA und ECC etc). Aus dem alten Mailprotokoll SMTP wurde SMTPS/TLS mit ebenfalls vielen Sicherheitsfeatures und immer neuen Algorithmen. Firmen vernetzen sich mit VPN und müssen ständig die Technologie aktualisieren, weil sich das bestehende als unsicher entpuppt. Und neue Standards setzen sich nicht durch, weil sich die Hersteller von Webbrowsern und Betriessystemen nicht einigen können oder wollen.

Online-Banking hat mal mit einem Login mit Kontonummer und Passwort sowie einer Liste mit Transaktionsnummern (TAN) für jeden Vorgang funktioniert. Das hat viele Jahre super geklappt. Heute bekomme ich nichtmal meinen Kontostand ohne eine extra App auf meinem Handy oder eine Kombination aus Kartenleser und meiner EC-Karte. Eine Kontostandsabfrage ist heute 1) die Seite öffnen 2) den verdammten Kartenleser suchen 3) den Geldbeutel mit EC-Karte holen 4) das Ding einschalten und aktivieren 5) auf der Banking-Seite die Kontonummer eintippen 6) den Kartenleser vor den Flicker-Code halten 7) rumtesten bis es klappt 8) auf dem Kartenleser zweimal "weiter" drücken 9) eine Nummer vom Display lesen und in die Banking-Seite eintippen und bestätigen. Dann hab ich aber noch nichts überwiesen... Noch Fragen???

IT-Development

Als ich mit Softwareentwicklung angefangen habe war es überhaupt kein Problem einfach zu programmieren was man wollte. Heute muß man ständig Angst haben ein Patent von irgend jemandem zu verletzen oder Lizenzen zu brechen. Ganze Anwants-Kanzleien sind auf dieses "Problem" spezialisiert und zerren jeden vor Gericht der hier etwas übersehen hat. Wen's interessiert kann ja mal "Software-Patente" googlen.

Damals (ca 30 Jahre) musste man sich zwischen den Programmiersprachen JAVA, C, Pascal oder VisualBasic entscheiden um richtig loszulegen. Es gab zwar weit mehr, aber nichts davon war Ernst zu nehmen. Frameworks in der Form gab es kaum. Aber heute ist es eine wahnsinnige Vielfalt an Möglichkeiten. Lokal mit C, C++, C#, Objective-C, Java, Kotlin, Swift, Rust, Golang oder doch besser Node.js mit JavaScript? Jedes hat so seine Stärken und Schwächen und man entscheidet meist falsch. Für das Web sollte es PHP, Ruby, Python oder doch gleich, dem Hype folgend, was in Node.js sein? Und für alles gibt es konkurrierende Frameworks (React, AngularJS, Vue.js, Express.js und hundert andere alleine für JavaScript und Node.js). Für PHP gibt es duzende.

Was früher eine relationale Datenbank von Oracle, Microsoft oder Borland war ist heute Oracle, Microsoft, MySQL/MariaDB, PostgreSQL, Cassandra, CouchDB, MongoDB, Redis, Memcached, Neo4j, Titan oder Giraph. Und es fehlen viele in der Liste. Und die Cloud-Anbieter machen es zusätzlich schwer durch das anbieten von meist inkompatiblen Eigenentwicklungen oder Varianten (zB AWS DynamoDB oder Azure Table Storage).

Und was man früher halt für Windows oder Mac entwickelt hat muß heute auf dem Windows-PC, dem Apple Mac und Mobilgeräten mit Android und iOS laufen. Und keine Programmiersprache liefert Output für alle genannten Systeme. Android-Apps basieren auf Java oder Kotlin, während Apps für iOS in Objective-C und Swift programmiert werden. Für den Windows-PC sollte es dann am besten eine .NET-Sprache wie C# oder VB.Net sein und für den Mac wieder Objective-C oder Swift. Darunter liegen verschiedene Frameworks die Oft nichts miteinander zu tun haben (GTK, QT, Swing, JavaFX, Cocoa etc). Und weil das so ist, gibt es andere die da helfen wollen. Also gibt es jetzt noch Xamarin, Flutter, Cordova, React Native, Ionic oder auch Appcelerator. Die versprechen dem Entwickler einen Code für mehrere Plattformen. Aber leider mehr Schlecht als Recht und immer mit Einschränkungen (Tempo, Zugriff auf Gerätefunktionen etc).

Alltags-Elektronik

Allem voran das Handy. Was früher ein Telefon war ist heute ein voll ausgereifter Computer mit Spielekonsole, WhatsApp, Internet-Browser, E-Mail-Client, Dokumenten-Safe, Musik-Machen, Musikplayer, Kamera mit Bildbearbeitung etc. Das macht es aber nicht einfacher in der Bedienung. Ein Telefonat annehmen oder führen ist für viele inzwischen ein Problem. Ich selbst habe im Bekanntenkreis einige Telefonate nicht geführt weil der angerufene es nicht geschafft hat anzunehmen. Es gibt ja keinen grünen Knopf mehr dafür...

Haustechnik

Telefonie und Fernsehen sind so ein Thema. Als mein Haus gebaut wurde gab es eben einen Kabelanschluß oder eine Antenne. Punkt. Heute kommt das Fernsehen vom Internet-Anbieter per Glasfaser in's Haus. Soweit okay, aber dann braucht es Router und Splitter (für DVB-C) und vor allem zig Tarife. Leider kommt ja nur noch Schrott im Fernsehen (HD-Schrott kostet extra) und das lässt sich nur durch Streaming-Platformen erträglich machen. Also wähle bitte zwischen Netflix, Sky, Amazon Prime, JOYN, Disney+, AppleTV, DAZN, Google Play Movies etc. Alle kosten natürlich Geld und wollen deine Daten.

Und das Telefon kommt auch vom Internet-Anbieter. Voice Over IP (VoIP) ist das Zauberwort. Seither haben wir langsamen Gesprächsaufbau, Echos, zerhackte Gespräche und brauchen einen PC plus Doktortitel um die Telefonanlage zu verwalten. Mit ISDN gab es diese Probleme definitiv nicht.

Eine neue Heizung zu kaufen ist nicht einfach. Heute will das Ding in's Internet, sonst gibt es keinen Service. Also wollen die meine Heiz-Daten haben und zwingen mich fast dazu. Einfach die Kessel-Temperatur an der Konsole einstellen geht nicht mehr. Man braucht jetzt eine App und Internet-Anschluß um das zu tun (wenn man es denn überhaupt noch selber tun darf).

Finanzen und Steuern

Eine Geschäfts-Kontoeröffnung in 2007 dauerte einen Nachmittag und vier Seiten Papier. In 2020 in Luxembourg dauerte es 8 Wochen, 25 Seiten Papier mit persönlichen Bestätigungen etc.

Von der Steuererklärung will ich gar nicht anfangen :-(

KFZ

Ich habe noch in den 2000ern einen Drehzahlmesser bei ATU gekauft und selber ins Auto eingebaut. Den Sensor an ein Zündkabel und per DIP-Schalter den Takt eingestellt (3 bis 6 Zylinder) und Fertig. Heute geht das nicht mehr. Alles verbaut und dank elektronischer Zündung nicht mehr zu verändern.

Zu meiner Jugendzeit hat man auch gerne mal ein neues Autoradio eingebaut oder aufgerüstet. Dazu gab es genormte Stecker im Auto und passendes Werkzeug im Handschuhfach. Heute geht das nicht. Das ist im Car-Entertainment-System mit Navi und Sprach-Assistenz verbunden und Du musst es so nehmen wie es ist. Mit allen Macken und Fehlern und fast ohne Chance auf ein Update.

Ja, und seit ich ein Auto mit Druck-Sensoren in den Autoreifen fahre, habe ich jeden Winter ein blinklicht im Display. Weil die Felgen meiner Winterreifen keine Druck-Sensoren haben muss eine Warnleuchte für den Druck leuchten. Ich würde ja okay sagen wenn von den 4 Sensoren einer oder zwei ein Problem haben oder nichts melden. Aber wenn alle 4 nicht da sind, warum dann die Leuchte? Sind ja offenbar keine Sensoren vorhanden. Also ausschalten. Geht aber nicht. Kann man nicht. Darf man nicht. Komplexität für'n Arsch.

Konsequenzen

Die Konsequenzen aus einer ständigen Verkomplizierung unseres Alltags sind vielfältig. Es wird zwangsläufig Verlierer geben. Auf Grund der schnellen Veränderung werden das zuerst ältere Menschen sein. Sie können der rasanten Entwicklung kaum folgen und sind damit auch von der aufkommenden Komplexität überfordert. Online-Banking, Handy und viele von mir oben genannten Beispiele sind eine Realität, die für viele ältere Menschen nicht mehr gilt. Sie sind bereits "abgehängt" und damit auf die Hilfe anderer angewiesen. Für eine Überweisung brauchen Sie jetzt Hilfe.

Weiterhin sind es die "einfachen" Menschen. Ich sage bewusst nicht "dumm" oder "blöd", denn das sind sie meistens nicht. Sie sind einfach nicht an Technologie oder Wissenschaft interessiert. Und sie verschlafen dann ganz schnell eine wichtige Technologie und landen schon mit mittlerem Alter auf dem Abstellgleis.

Eine Ausbildung hält heute kein Leben lang mehr. Es dauert nur 10 oder 20 Jahre und das Wissen ist hoffnungslos veraltet und verhindert jeden sinnvollen Einsatz. Dadurch landen häufig schon Frauen nach der Auszeit durch zwei Kinder in einer Sackgasse, aus der sie kaum herauskommen. Das Wissen von vor 15 Jahren ist dann so veraltet, dass sie den heutigen Anforderungen in ihrem Beruf nicht mehr gewachsen sind. Plötzlich kann eine Buchhalterin nirgends mehr arbeiten, weil Sie die vielen neuen Regeln nicht mehr kennt oder an mangelnden PC-Kenntnissen scheitert.

Was das für den Arbeitsmarkt bedeutet kann sich jeder selbst ausmalen.

Genau genommen fühle ich auch persönlich immer öfters eine gewisse Ohnmacht gegenüber der voranschreitenden Komplexität selbst einfachster Dinge (siehe Online Banking). Wenn man es nüchtern betrachtet kommt Oft die Erkenntnis, dass die höhere Komplexität einer Sache nicht unbedingt eine Verbesserung der Leistung, Funktion oder des Nutzens nach sich zieht. Häufig ist es nur das befriedigen einer gewissen Bequemlichkeit, welches final zur Unbenutzbarkeit oder zumindest Unwartbarkeit führt. Bestes Beispiel ist das auswählen eines TV-Senders oder die Abfrage der Uhrzeit per Sprach-Befehl. Das braucht keiner, aber die Technologie-Konzerne sind sich sicher, dass wir das wollen.

Häufig begegnet mir die unsinnige Erhöhung von Komplexität auch aus dem Grund der fehlenden Innovation. Nehmen wir moderne PKW, die mit einem duzend Assistenz-Systemen daherkommen und dem Fahrer alle möglichen Verbesserungen versprechen. Aber genaugenommen hat der Hersteller nichts innovatives zur Mobilität beizutragen das ihn von der Konkurrenz unterscheidet. Daher versucht er mit diesen "Gimmiks" das Interesse der Käufer zu bekommen. In der Folge haben wir eine Bordelektronik die immer komplexer wird und damit auch immer Fehleranfälliger. Und schlechter wartbar. Und uns vom Fahren ablenkt.

Wie denkt Ihr darüber oder habt Ihr interessante Beispiele für eine unnötige Komplexität? Oder macht euch ein Bereich zu schaffen in dem es immer komplexer wird? Ich freue mich über Kommentare!

PS. Foto im Header von Ketut Subiyanto von Pexels